Ich lebe in einer Dystopie
Eine Dystopie ist laut Wikipedia die Geschichte einer Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt hat.
Also ganz das Gegenteil der „schöner, schneller, weiter“ Utopien meiner Jugend.
Als ich 14 war, träumte ich davon, später lichtschnell durch Sonnensystem zu reisen oder zumindest mit fliegenden Autos über kühn geschwungene Rampen zu fahren wie in Fritz Langs Film „Metropolis“.
Real fahre ich jetzt morgens mit der S-Bahn S11 von Köln-Holweide nach Köln-Hansaring zur Arbeit.
Und das Bahn-Erlebnis wird von Jahr zu Jahr schlimmer.
Letzten Mittwoch hatte ich einen Arzttermin um 8 Uhr morgens.
Schon durch Erfahrung mit unpünktlichen Bahnen klug, nahm ich die Bahn um 7:40 Uhr, die mich in 20 Minuten zum Hansaring bringen sollte. Sollte.
Auf dem Gleis gegenüber stand ein Güterzug, weshalb meine Bahn S11 ausfiel. Dafür kam 10 Minuten später eine Bahn, die in keinem Fahrplan stand. „OK – besser als keine“, dachte ich und stieg ein. Diese Bahn fuhr allerdings sehr langsam und auf Umwegen nur bis Köln-Haupbahnhof – wo ich dann von Gleis 6 hinunterlaufen mußte und auf Gleis 11 wieder hinauf, um die verspätete nächste S11 zu erwischen.
Beim Arzt war ich 10 Minuten zu spät und hatte dadurch 12 andere Patienten vor mir und eine Wartezeit von einer Stunde. Bis ich dann zur Arbeit kam, war ich schon 3 Stunden mit den Auswirkungen einer immer schlechter funktionierenden Gesellschaft beschäftigt.
Dystopie.
Mein Vater war Beamter bei der „Deutschen Bundesbahn“ wie die Bahn AG früher hieß und es war selbstverständlich, dass die Züge pünktlich fuhren.
Wenn eine Verspätung eintrat, dann selten im regulären Ablauf, eher bei Fernverbindungen oder wenn ein Unfall passiert war. Mein Vater starb vor 9 Jahren und würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er wüsste, dass heute Verspätungen an der Tagesordnung sind und unter 5 Minuten gar nicht mehr genannt werden.
Immer wieder erfrischend sind auch die Ausreden, die in der Bahn angesagt werden, wenn der Fahrplan durcheinanderkommt: „wegen eines Oberleitungsschadens“, „wegen Laub auf den Schienen“ oder „wegen einer defekten Aussenscheibe“ verzögert sich dann die Fahrt „um wenige Minuten“. Manchmal hege ich die Vermutung, dass jeder Zugführer ein kleines rotes Heftchen mit Ausreden bei sich trägt. Dabei könnte man die meisten Gründe durch mehr Mitarbeiter und dadurch bessere Wartung von Fahrzeugen und Anlagen in den Griff bekommen. Hätte man doch nicht so viele Mitarbeiter entlassen…
Ich fahre 40 mal im Monat dieselbe Strecke – und im letzten Monat lag die Zahl der verspäteten S-Bahnen bei 80 Prozent. So habe ich mir die Zukunft nicht vorgestellt.
Was kann ich mit meiner Enttäuschung und Wut tun?
Bei der Beschwerde-Hotline der Bahn anrufen? Ich habe gehört, die Telefon-Nummer sei kostenpflichtig. Hallo? Ich soll auch noch bezahlen, um mich beschweren zu können?
Als aufgeklärter Konsument kann ich ja das Produkt liegenlassen und von der Konkurrenz kaufen. Hallo? Die Bahn ist de fakto immer noch Monopolist – da fährt niemand anders meine Strecke.
Was taten die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin, als sie verschimmeltes Brot zu essen bekamen: zettelten die russische Revolution an. Was geschah in Berlin im Februar 1968 aus Protest gegen den Vietnamkrieg: der SDS veranstaltete einen Kongress und fortan gingen die Studenten auf die Barrikaden. Was geschah aus Protest gegen die Apartheid in Südafrika? Südafrikanische Agrar-Produkte wurden in den 1980ern boykottiert, was zu einem Umsatzrückgang von ca. 13 Prozent führte und mit half, den Untergang des Regimes zu beschleunigen.
Wie könnten wir der Bahn klarmachen, dass das so nicht läuft?
Was wäre ein angemessenes Zeichen? Dem Zugführer mit dem Finger drohen? Mit einem selbst gemalten Transparent am Kopfende des Zuges stehen? Das Gespräch mit den Leidensgenossen suchen? Würden andere frustrierte Reisende sich solidarisieren? Oder muss ich zum alten Spinner mutieren, der monoton vor sich hinbrabbelt: „früher war alles besser…“
Alle Ideen sind willkommen.
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